Katja Schraml: schlupf

„Und ist doch so, dass du die Tür aufreißen möchtst
und soviel Verlangen hast in dir drin,
dass dir die Flügel herauswachsen müssten aus dem,
was die anderen anschaun für deinen Buckel,
wenn eins bloß Augen dafür hätt und hätt an dich noch einen Glauben.
Aber das gibts ja nicht auf der beschissenen Welt.
Was dich beißt, sind nicht deine Flügel,
wo herausstoßen mit aller Gewalt,
das bleibt ewig dein Buckel.“

Marieluise Fleißer, Der starke Stamm

dem kaschpar wirds schlupfloch <gömställen1> unterm first zugemauert, weil er zu oft gegens fenster geflogen, zu viele brüche im glas verursacht, als dass ichs noch vertragen möcht. ihm nachtragen tu ichs nicht, doch die scheibe glas will keine*r mehr her|richten reparieren.

wo soll er jetzt hin? sucht er sich 1 neues versteck? in ritzen+schlitzen hinterm mörtel versteckt, in büschen+hecken vom gestrüpp verdeckt? <kriechen krabbeln + krauchen?> seit das navi keine großbuchstaben mehr kennt, folgt er täglich „dem weg“. (keine ahnung, wos endet.)

wohin er auch schaut, überall nisten sie schon, ziehen die brut hoch, stopfen die schnäbel, verteidigen lauthals ihr revier. was soll er noch hier? scharrfüße machen?

wandert er aus?
wohin könnt er gehen?
welche wege liegen ihm?

er hat keine heirat heimat mehr.

seit wochen siehst du ihn <epitheton ornans> unschlüssig umherirren <trödeln bis treideln>, verwirrt ackert er deine blumenbeettröge dir durch. doch da liegt längst kein korn mehr, die ratten habens dir jahrumjahr leergefressen, du pflanzt nichts mehr an.

seit dir der kaschpar gegens fenster geknallt – er weiß, dass dus beschriebst, bevor ers tat, das hat nichts geholfen (wie der stein für dein herzblut nicht das virus verhindert, das sich stets wie im richtigen leben <klandestin> nur unter der nachweisgrenze in deine texte geschrieben) – seit er dir <un|gelogen> gegen die scheiben geflogen, auf dass sie gesprungen geklirrt, sorgst du dich, er möcht dir was sagen, was nicht dein ohr erreicht, weil du lange schon taub für sein geschrei <krakeel krawall klamauk>.

und auf 1 leben <verb|leib+verderb> wirft er sich in deine ruhe hinein, schneidet die kabel des rads dir entzwei, dass du nicht mehr entfliehen kannst. ja, du machst ihn verantwortlich, auch für all die muskeln+sehnen, die du dir auf der flucht <überspannt> verrissen, auf dass du gelähmt in deinem zimmer hockst + zum fenster rausstierst wie der NARR (am liebsten würdest duS ausreisSen.)

du willst ihn nicht hören. <qui vive?> was könnt er dir sagen? die zeit (hier) sei vorbei, swär not_wendig weiterzuziehen? weil wir alles erreicht, was wir einst wollten, nämlich frei sein. warum lässt du ihn nicht mehr ein? <what is your way? hospitality or hostility?>

die stangen des käfigs kannst du ergreifen, mit deinen schritten an seinen rändern entlang die größe ermessen, die dir hinter gittern verblieben, dagegen anrennen <einschlagen zersägen aufdehnen> … so viel kraft hast du gesammelt, so viel schwung geholt, dass du die lücke geschaffen, die breit genug, dich durchzuzwängen, und kein gewicht, das sich an dich gehangen, um dich aufm boden zu halten, konntes verhindern, dass du entschwunden, ausgeflogen und nicht mehr zurückgekehrt. bravo, mein mädchen, das hast du gut gemacht, dazu braucht eine*r sch|neid. (1 leben lang das schicksal der geburt verarbeiten …)

aber da draußen das land, die welt, die ferne ist weit. an was orientierst du dich auf deinem flug? wohin solls gehen? du bist juNg_endlich <flügGe>, es spielt keine rolle, wenn du dich verausgabst, du erholst dich schnell und kein ausflug erschöpft dich, dass du nicht schnell wieder regenerierst. du tust alles, was geht, austesten probieren versuchen, einfach mal schauen, kurzer halt stopp <1 pause> und schon gehts wieder weiter voran. 

du baust dir 1 nest, jetzt weißt du, wies funktioniert. du findest zweidrei komische vögel, denens ebenso geht, ihr zieht um die häuser <sensationslust>, ihr lassts euch gut gehen, du suchst dir 1 bleibe <dach über hals über kopf>, und brennt 1 ab/stürzt 1 ein, sfindet sich stets 1 neue, weil deine flügel so stark, dass sie dich immer weitertragen. du suchst nicht mehr aufm boden nach all den resten, die andre übriggelassen, du mischst dich unter sie, willst vom frischgebackenen 1 stück abzwacken. entwickelst das schreiBen, um selbstSTändig zu werden, baust dir im nebelnichtsweiß 1 festhaltegrund auf buchstabenschwarz. errichtest 1 haus, das 1 schatten wirft auf deinem/deinen weg und wunderst dich, warums so dunkel um dich herum. schaust dich im spiegel an, deine silhouette sieht gut aus, und wenn nicht, brichts aus dir raus/brichst du zusammen, und du stehst wieder auf, denn aufgeben gibts nicht, das ist verboten. du gehst nicht mehr nah ran, hältst deinen abstand, beobachtest nur aus distanz.

du merkst, wie die regeln dich tragen, die hast du <regelGEhörig> mitgenommen, sie sind dir eingebrannt, 1 narbenkennzeichen=brandmal <stigma>, das trägst du herum, und nur 1x im früh_jahr, wenn die federn vom frühling dir glänzen, fällts nicht auf, im winter aber musst du dein kleid verstecken, dass jeden tag älter+g|rau|er (gegen) die reinheit schneewittchens <ballett+pferdemädchen> absticht, jetzt schimmerts schon nicht mehr, die ausflüge|l werden kürzer, du brauchst immer länger, dich auszuruhen, liegst tage+wochen herum und weißt nicht, obs kopf körper seele <knopp kropp + själ|v²>, womit du zuerst zu tun. bist du mehr müßig oder nur müde?

zwischen der angst des eingesperrt+ausgeschlossenseins bist du beschäftigt: ständige wiederherstellung des alleinseins. noch pfeifst du 1 lied, nicht immer 1 neues, singst alte weisen, auf dass sich die töne im winde verlieren – wenn die luft sie auf/mitnimmt, hoffst du, werden sie nicht wiederkehren. du kannst dich befreien, denkst du, wenn du sie weiterträgst → aufgibst, und tatsächlich verirren sich halbe melodien im wind, der <grundgütIGer> dir gütig+güNStig, doch bleibst du zurück mit zweidrei tönen, die ihren halt+zusammenhang verloren, du traust dich nicht suchen und sie verknüpfen – was, wenn wieder die alte klage nur <superfötation> deinen lippen entströmt? das immergleiche lied … alles wäre vergeben|s. und du verstimmst→verstummst.

trankst du den brunnen leer oder suchte das wasser sich 1 neuen weg? nur du bliebst hängen auf trockenem grund. unfähig, dich zu bewegen.

selbst_autonomie/_veränderung/_suche: ich möchte 1 andere*r werden/defizite beheben/mein leben ändern.

was davon wolltest du/willst du noch? das alte hast du ab/aufgegeben, das neue lässt sich nicht greifen, der schmerz nur schreibt sich tief in die haut, die muss gefärbt+gegerbt werden, auf dass man sieht, was innen verkehrt, das innere nach außen gezerrt.

und draußen zieht mit dir der kaschpar <radiKal> seine runden, wartet darauf, dass du die fenster öffnest. kommt er herein? oder möchte er, dass du hinaus? du weißt schon, dass dus selbst warst, die dafür sorgte, dass ihm das nest versperrt wird? dass er jetzt häufiger noch als zu vor, weil verWirrt, gegen scheiben+mauern klirrt – er|innert den schlupf, den du ihm verwehrst.

wie willst du leben ohne ihn?
wie soll er singen ohne dich?

du möchtest dich trösten <exkulpieren>, dass es noch 2 lücken gibt, auf der anderen seite, die noch keine*r gesehen/keinen schaden an|gerichtet, doch du hast sie ja längst verraten vor lauter furcht, er möchte dorthin ziehen, die nächsten scheiben zerstören. und jetzt sind sie alle zu.

aus kaputt + vorbei.

merkst du nicht, wie er flIeht? er lässt dir keine ruh. aber vertraue nicht drauf, dass er nicht ohne dich kann, dass du dir aussuchen könntest, ob du ihn hörst oder nicht, dass du ihn hin|halten/holen kannst, wenn du ihn brauchst, und aussperren, wenn dir sein klagewehweckruf zu viel.

der kaschpar ist eigen, ich weiß nicht, ob er sich in 1 tiefe stürzt, wenn du ihn nicht er|hörst, keinen neuen schutz gewährst. er wird doch immer die flügel breiten …

doch wie lange werden sie noch zum ab/über/weg/aus_flug taugen? vielleicht möchte er in den käfig zurück, weil er alt+müde des un|gewissens sich ausruhen möcht? seine stimme wird heiser, und wenn auch das lied nicht neu, wirds doch leiser. ihr könntet so schön gemeinsam kräChZen …

was also wirst du tun?

ihn die letzten geschichten erzählen lassen, die ihn noch quälen, auf dass sie hinaus in der welt vom wind vertragen wie deine oH_töne?

du weißt, dass kein*e andere*r kommen wird. kein neuer vogel mit lustigen mel|o|die|n.

wenn der ursprung des schreibens das gefühl des gefängnisses ist, des eingesperrtseins + der not des zwanghaften entfliehens: brauchst dus, um 1 grund zum schreiben zu haben? fliehst du den käfig, machst du dich frei oder entziehst du dir den boden? was, wenn du aufhörtest? was, wenn alles weggeschrieben? bleibt dann nur leere hülle? oder wirst du 1 neuer mensch? 1 unbeschriebenes blatt …

warum hat robert walser aufgehört zu schreiben?wie oft muss man sich häuten, bis man die letzte feste haut in fetzen haut, die keine*r mehr durchdringt?

machmal, wenn ich dich draußen seh, wie du dem wasser übers antlitz blickst, wie du ausschau hältst <epiphanie> nach der frau am meer, ob nicht ihr schiff endlich käme, das dich mitnähme, auf dass 1 andere voranginge, die des weges gewiss, dass du aufgeben könntest, dich abzumühLen, wie du seEhnsuchtsvoll nach 1 steuer schielst, das dein ruder obsolesziert, flieg ich gern auf + ziehe 1 runde, lenke deinen blick auf mich, auf dass du dich erinnerst, dass du am boden, schrittfürschritt, dass sie im wasser, zugumzug, und ich in der luft, schlagumschlag. dass du dort unten <schwerkraft>, dass sie da drinnen <schwerlicht>, und ich hier oben <schwerElos>. dass jede*r sein element, und wir nicht ohne einander auskommen können, nicht voneinander los. auch wenn sie immer nur schweigt, wenn ich schreie, und du versuchst, uns wegzuschreiben; auch wenn wir nicht wissen, wer von uns (mehr) fühlt denkt oder m/weint. wir sind alle dabei. wir sind die 3 grundsünden: gier torheit + zorn. wir sind uns einander existenzberechtigung. wir sind alle 3 → 1.

hab ich dir schon gesagt, dass nicht der kaschpar damals die sichtgläser fliegend zerschlug, sondern 1 unbekannte*r auf der suche nach 1 ventil für den inneren druck? oder aus welchem grund sonst … mit uns hatte das gar nichts zu tun – oder wer schießt (schon) auf den kaschpar?

und doch hat deine angst sofort alle angriffsflächen verbaut. hat die sprünge im glas dem kaschpar in die flügel geschoben. wärs nicht an der zeit nun, wo dus weißt+bereust, dass du ihm die tür öffnest + entgegenkommst?

sein geist sucht dich heim. du siehst ihn draußen im baume sitzen, aus zweigen hat er sich 1 form gebaut. 1 sTilLhouette sitzt er da und schaut zu dir herein. vem här vill bli gLömd nu!?³

wir müssen hinaus aufs offene meer, dort harrt unser* 1 dame. lass sie nicht länger warten. es gibt nur 1 schicksal, dem kommst du nicht aus, du kannst dich nicht ducken dauernd im dunkel, du kannst nicht zurück, zum lösCHen ists nun zu spät, das feuer hat um sich gegriffen, und keine flucht hilft. kämpfen musst du selbst. nimm deine regeln+grenzen + begehre auf – ewige jugend, die erwachsen werden will, und sich nicht traut. rebelliere gegen die eigenen schranken. krall krampf krank dich nicht fest mehr. wie oft muss ichs sagen? let|s go! sei 1x nur, statt dauernd zu werden. sei einfach da. als ob du schon fertig, und jeder tag mehr wär 1 geschenk.

fasse dich!

und setze <framing> den rahmen im einklang mit dir. erfülle den auftrag, beende das werk. vertraue aufs wort, auf seinen sinn. wer wie warum wozus gut. vertraue drauf, dass sichs erfüllt.
und dann: geh auf in der welt ihrem geräusch. 

sich mit dem tod aussöhnen = mit dem ungelebten leben.

1 schwedisch: schlupfloch
² schwedisch: knopp = umgangssprachlich birne/kopf, kropp = körper, själ = seele, själv = selbst
³ schwedisch: „wer will jetzt hier versteckt (gömd)/vergessen (glömd) werden?“

Hörstückfassung: Senta Hirscheider, Christopher Mau

Fabian Lenthe: FFP2

Ahh, Herr Söder! Schön, dass ich Sie treffe!

Gott zum Gruße!

Ähh, ja… Sie gehen auch hier einkaufen?
Hier, in meinem Lieblingsdiscounter,
das hätte ich ja niemals gedacht.
So nah am Volk, Respekt!

Was? Nein, achso….
nene, ich bin nur hier um….
um..ich wollte nur…

Ja, Herr Söder….
der Leberkäs ist übrigens grad im Angebot…
1,39€

Mmmhh…najaaaa,
ich wollte eigentlich nur schauen,
ob jeder eine FFP2-Maske trägt.
Ich trage ja schließlich auch eine!

Oh, ja, das verstehe ich natürlich.
Wie Sie sehen trage ich auch
nur ein T-Shirt um den Mund.
Aber gehen wir doch einmal kurz
zu den beiden Herren neben dem Mülleimer,
die gerade ihr Frühstück trinken,
dann können Sie sich ja selbst überzeugen!

Nein, BITTE, ich…

Was ist denn mit Ihnen,
fühlen Sie sich nicht wohl? …
Ich verstehe! Naja, aber jetzt,
wo wir schon einmal so schön beinander sind,
würden Sie mir vielleicht Ihre Maske geben?

Ich weiß nicht…ich…

Sehen Sie, ich habe noch 5€
für die nächsten zwei Tage,
bin hungrig und habe keine FFP2-Maske.
Das bedeutet entweder Maske oder Spaghetti,
aber ohne Maske keine Spaghetti,
verstehen Sie?

Nein?!?

Nein?
Also gut, ich erkläre es Ihnen noch einmal,
damit Sie es auch verstehen, okay?

EY, KALLE…KOMMSTE MA SCHNELL HER!

Hören Sie sofort auf!

Jetzt stellen’se sich ma nich so an!
LOS, MASKE HER, ICH HAB HUNGER!!

HILFE HIL…

Na bitte, geht doch!
Vielen Dank für ihre Kooperation, Herr Söder.
Und jetzt geben’se mal ne Runde Masken aus,
ABER DALLI!

Claus Caraut: Den Lichtersaft reinpläsieren

– Karaffée im Wandel der Gezeiten –

(1) Vor dem Kaffee

Gumo Freunde der heißen Bohne
Heiz mir gleich die zähe Mure hinters Brett!
erstmal einen drallmayer probohno hinter die stulle broten, was Mörtwl
Es ist Zeit für ne Tasse TeeR
HEIZEN
Ich zwiebel mir die Brüllsuppe jetzt wieder würzig in den Kartoffelkopf rein
Gumo Freunde. Das Aggregat wird angebrüllt endlich den geilen Saft rauszurücken.
Der brühe Vogel fängt den Schlonz!
nach einem ausgiebigen Wanderausflug ersma schön zartschmelzenden Brüllonado in die Muldenfräse nei, was Schlemtems
bin dumm wie ein Stück Müll bis gleich die Terrorkirsche gekocht ist
Kaffee ist für mich lecker
völlig verplästert zur rinse kriechen und ornglich lichtersaft in die plürre kippen
Erstmal einen reintöpfern, in die ausgedürstete Visage!
Yes we Kännchen
nach dem Saft gieren
Schöm die WOCHENENDEINLEIZUNGZ-SALBUM IN STOFFWECLSELAPPERAT REIMPUMPEN, WAS LEUMPTINGS
more espresso less depresso, was mepfelt?
Wer knüppelt da im Widerschein/es ist der Schmonz, der fein will rein

(2) Kaffee kochen

ersma schön plan ein‘ reinzementiern mit die Schlonzierraupe
Schlacke häckseln
Ordentlich Strauchmehl aufkochen
WOMMS ihn dir rein frisch von der Glut runter in die Arbeiterfresse
den Boiler heiß haben
Erstma fett ne Erpressung reinwürfeln
Schlagt die Giftzähne der Schlonzeschlange in den Milcxschaum, Lefterz!
grüße vom brewpiter und seinen monden
DIE KANNE HEISS HABEN
ALLES BRÜHT GUT
ÄS KAFI USE LA
Freude schöner GÖTTERSCHLONZEN WAS LEUNDENE
Ich kawenze mir den Röstköttelsud ausschließlich mit großen Mengen Eutersaft ins Fressgemächt
Schlonzkanister so siedend heiß reinbasteln, dass das Zäpfchen Tango tanzt, was
Der ganze zylinderförmige Humpen wird bei überkritischem Druck durch die Kiemen gefräst. Was Du da siehst ist im Prinzip embryonale Kohle.
Erstmal ’nen starken Kaffee brauen, was Leute?

(3) Wichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens

Bαριστοτέλης
HANS MAGNUS SCHLONZENBERGER
Reinmund Carver
HAURUCKI MURAKANNI
Schlack Lacan
Jon Bohni – ich will ein Kind von dir ! It’s is my live
Franz Kaffka
Vladimir Nabokaff
MAUL SCHLONZEIMER
Hildegard von Schlingen
Marcel Prost
Kracht (richich in fressbrett rein)
Fjodor Dostolonghi
Plören Kierkegaard
LORD VOLLAUTOMORT!?
Daniel César Martín Brühl Schlonzález

(4) Kaffee trinken

schön das BRÜLLSCHIFF HINTER DIE BRÜSTUNG LOTSEN
Kaffeepatronen direkt im Darm einlagern
Würzigen Schlonzo reingourmeten
Huhu ich bretter mir jetzt die schwarze Planke hier vollends hintern Hut.
ICH PEITSCH MIT SECHZIGTAUSEND KNOTEN DURCH DAS LICHT UND RIECHE KAFFEE AUS DEN GESCHÄFTEN WIE EIN HUND SEIN SOCIAL MEDIA AN DER PISSHECKE IM PARK
reinschlörzen
einen hinter den Hut hauen
das KLÖTZCHEN fest reinDREHEN
manisch einen kannistern
musst du im Ganzen als Klotz die fresse runterprügeln
DAS BEMZIN EIMSPEISEN
Die Brülle reincremieren
DEN VERMALEDEITEN SUDZUBER HINTER DIE HASSZARGE ZINNOBERN, ZUM DEIBEL!
düsteren malorke in den corpus reinkolportieren
DIE DICKE PRESSOMONDBRÜHE REINLABEN WAS
MASSIV HINTERVENIEREN
Den niederträchtigen Sirup in die Leiche verdammen. In die Physiognomie reinpathologisieren. Das Elend mit dem Trane huldigen. Die Teufelsränen einfahren lassen. Den Gotteshauch einatmen. Den Schlonz reimzubern
Halbtot den Notkanister volltanken
erstmal einen kübel äthiopischen lötsaft reinheidelbeerisieren, was yirgacheffes?
IN DIE FRESSE PROBRÜLLVIDEN
ordentlich die Mallotze in die Müllkippe sortieren
MIR VOLLE KANNÜLE DAS HEISSE SERUM IN MEINEN ANTIKÖRPER ZWANGHAFT REINIMPFEN
schön den lichtersaft reinpläsieren
Ab ins Hintertreffen mit der daumendicken Dampframme!
REIIIIINNNNNWEEEEMMMMSSSSEEEEEENNNNNNNNNN
REINGHOULEN WIE EIN OGER
INERNATIONALISCHMIEREN
neibouldern
DIE BRÜLLGEFÜLLTEN STIEFEL AUF EX HINTER DIE NUSS WICHTELN
die Bohne neibolzen
BEERENSIFFE HINTERS SPALIER KLEMMEN
FETT DIE KRÜMELFAUST SCHMECKEN, WAS
sich den napalmtrunk in den dreckskörper berzerkern
HINTERHEIZEN
BRÜLLEN BIS DER ARZT KOMMT
hart sich die brennende Kehlenreibe hinters Fressbrett kämmen
die Schlonze reinwemmsemmeln
direkt 1:1 die düstre bernsteinscheibe ins gehirn verballern
BISSI BRÜLLOBST REIMERNTEN
SCHLACKE DIREKT IN DIE HALSÖFFNUNG REINWAMMSEN
REINWAHNEN
Teeren und Kaffeedern
REINFLEZEN
Prost. Soeben aufgebrüht und hetzt reim damit!
STATTLICH
Frühmorgens erstma Eduschieren
Die Kackvisage stilvoll kaputtsaufen.
STRULL NINTER
REIMPFEFFERN
Die Tschibohnen schweißheiß in die Körperkanone reinzischen
REINBEIZEN
die dunkel-cremige Brüllschlorze in den Schlonzschlund reinböllern
HINTER DIE HILDE BRENNEM!!!!!?
Das raue Rinnsal volles Rohr in den dunkeldüstren Schlund mörsern
übertrieben kaffee trinken bis die poperze birst
Die famoseste Idealschlonze bis ins klobigste Hirnareal grobporig reinfantasten
Erstmal lodernden Morgenteer im Schacht verklappen.
Mit der goldenen Brühllgülle den Blinddarm beleuchten
DIE BITTERSAURE, SCHWISCHWASCHWATTE SCHWARUTZE IN MEINEN KACKSCHLOND ZENTRIFUGIEREN
BRÜLLERVERBOT? NICHT MIT MIR!!!!!
über den basar flanieren
Die müden Knochen hart kochend einballersamieren
Zünde jetzt die Stange Dynamit
Den fettzischen Schwarzölsaft grobschlächtig mörteln und reikärchern
Schieb mir jetzt die Brühstange so richtig zwischen die Dichtlippen. Die Muffe muss mal angezogen werden.
Mit dem Schmackes aus der schwarzen Schlacke das nackige Packeis zum Bersten bringen
Schön den König Kaffee in den Fleischpalast geleiten
MELDE: FEUER!

(5) 50 words for Karaffée

das geile Öl-Gesöff
Geile Schlickschlonze, eyy
bräsige Güllegrütze
Labsal meiner Seele
Brülltrompete
das schwarze Gold
Covfefe
Exzesso
Intenso BÖLLERUNG
der Todesengel des morgendlichen Gluthauchs
die urst geile Reinprügelschlacke
Reiseziel: MaLORKa
der siedende Sumpf
Schlonzito
Bittersüsse Schaumgeburt

(6) Nach dem Kaffee ist vor dem Kaffee

Koffeeinsaft schon weggegurgelt, Fellas
um 19:24 noch tiefschwarze Suppe ins Maul reibetoniert
Ich komm jetzt nach Hause soll ich nochmal schlonzen
Verstehe die Frage nicht
gut cappu heut schon hinter die segel genagelt
So, Freunde. 22:13. Jetzt zum Abschluss des wilden Rittes nochmal ne Wanne flüssige Nacht abpumpen.
ICH VERDTEH DIE FRAGHE NICHTT
Dark Cassandra durch die Kackfresse gestrigelt
Vorm Schlafengehen Black Beauty eingepfercht.
ERST WENN MAN VOR SCHWEISS TRIEFT WIE EINE MEERJUNGFRAU HAT MAN GENUG INTUS, DASS MAN EINE NEUE FUHRE BRÜHEN/BRÜLLEN DARF
kübel mir jetzt auch noch einen Kleinen in die Fresssenke rein
Ich kann übrigens, trotz der krankhaft voluminösen Unmengen Schlonzgranatenbracke, die mit vormittags durch die Visagenbohrung durchpimpere, um diese Uhrzeit auf gar keinen Fall mehr nachlegen, weil ich dann die ganze Nacht wachliege
Aus Soldarität noch zwei (!) Knalltrompeten durch den Arsch geblasen
Die gute Brühwarme schön keramisch geschmeidich reim ins Leuwenmoylchen gießen
Sattelt ihr um die Zeit auch nochmal das schwarze Wildpferd auf?
BEI ALLEN 76 BASAREN VON STAMBUL! DER BRÜLLER VON EBEN HAT GEKNALLT
Schön die Mandeln abflexen, da ich so gierig auf den Torpedo war. Egal, wenn ich nachlad mach ichs nochmal.
gerade eingeschissen
ähm
scherz
brüllend komischst in die Milz gehonkt
ICH WILL ZU EIM KARFEEE, ABER KAIN LADENS HABZ AUFFF
i schlonz heut durch, ihr so!?
gerade auch noch einen geknüppelt
Den Wecker früher stellen, damit mal eher schlontzzen kann!!! Schliesslich können wir nachts keinen rwim saifne
Morgen früh wieder Black Essig in den Wechselbalg aufbocken was LHERUTERP

Texte: Andreas Unteregge, Bastian Borstell, Ben Mertens, Benjamin Kindervatter, Christoph d’Aube, Daniel Rapoport, Elisabeth Heide, Ella Gülden, Fabo Hotzenplotz, Filip Olmak, Jan Dobritius, Jessica Ramczik, Jo Goldmund, John Osinski, Julia Meta Müller, Katharina Schmidt, Kevin Hofius, Lean N. B. Völkering, Lisa Li, Marius Beise, Mark-Stefan Tietze, Martin Albrich, Mercedes Nabert, Mönch Meier, Robert Friedrich von Cube, Rosa Maria Stein, Sebastian Albin, Senneberg Lutz, Tom Schommsen, Wiebke Kämpf, Wulian Jagner, Yan Theodor Weißmann

Skript, Schnitt: Claus Caraut
Titel: Andreas V. Weber
Sprecher*innen: Andreas M. Lugauer, Andreas Unteregge, Anna Housa, Ben Mertens, Bernd Pflaum, Elisabeth Heide, Ella Gülden, John Osinski, Julia Meta Müller, Katharina Schmidt, Lean B. Völkering, Lisa Li, Margret Bernreuther, Mark-Stefan Tietze, Robert von Cube, Sandy Malitzki, Sebastian Albin, Timo Möller, Wiebke Kämpf

Epilog (Web Exclusive):

Texte: Annebert Lassdas, Li Almereyda, Luise Braun, Maurizio Massaro, Roman Wilh, Sebastian Koch

Skript, Schnitt: Claus Caraut
Sprecher: Christian Y. Schmidt

Mina Reischer: Nikolai Iwanowitsch, Du hast mich ins Licht geführt

What if someone smart is not at hand

When I need to come up with masterplan

Its okay, by now its in my head

And Ill ask my myself what would you have said.

Ich bin zu zaghaft, zu schüchtern, zu verschlossen, zu misstrauisch.

Ich habe kein Glück, gehöre aber wenigstens zu den Schwachen, die versuchen, sich zu verteidigen. Was wenn mein Ziel außerhalb der Grenzen des Erreichbaren, weit hinter der Front des Lebens liegt?

Das sind nicht Deine Sätze. Das Glück ist, glaube ich, sehr alt. Etwas, was wir mit uns tragen und was man immer wieder ausgraben muss.

Es ausgraben?

Ja. Unter all dem Schutt, der dabei zu Tage tritt, entdeckt man zunächst mal diese dicke Kruste. Wer es schafft, bis dorthin zu kommen und die abkratzt, kann für eine Millisekunde eins sein mit  dem Raum und der Zeit und sich selbst. Wann das geschieht, ist unvorhersehbar. Aber auch das nenne ich Glück, dass wir nicht nur betonmäßig stabil herumstehen müssen, sondern auch graben und kratzen dürfen. Ein großes Wagnis. Wir müssen wagen. Ohne zu wagen gelangen wir nicht zum Glück.

I should not be alone.

Calm down!

I should not be alone.

Calm down! Du weißt doch genau, dass es menschlich nach unten geht. Es gibt kaum eine Hürde, die niedriger ist. Die Wahrscheinlichkeit zu fallen wächst bekanntlich, wenn man sich sagt, dass man nicht fallen darf. Nur Du kannst Deine internen Probleme lösen.

Ich neige dazu zu idealisieren. Ich werde nie vergessen. Diese Sekunde werde ich nie vergessen. Das stand im Raum, dann sagt er es einfach: Zack. Wir brauchen noch zwei. Zwei mal zwei. Zwei mal vier. Und es gab dieses Lächeln. Kästnergedicht: In dieser Nacht trug ich alles Leid der Welt.

Calm down! Erkenntnis ist ein „Für Sich“ und durchfließt nur einen nicht verzweifelten Menschen spontan, weil sie das Grundwasser des Lebens ist. Für den Prozess sind abschließbare Türen wesentlich. Erst wenn die Tür fest hinter Dir schließt, öffnet sich auch dieser innere Brunnen.

Das Gefühl von der Luft vollständig abgesperrt zu sein, verursacht in mir Schwindel. Und ich merke, dass sich doch nichts dreht.

Wach auf! Es ist Zeit.

I should not be alone. Ihr könnt mich zum Grabe tragen.

Wach auf! Zwischen Deinem Schwarz und meinem Rot liegt noch mindestens Grün minus Blau. Ein ganzes, unendlich weites Spektrum. Ein Zeichen von Vereinsamung ist es, wenn da nichts mehr an Farbe ist, so dass Du immer denkst, sie haben Dich vergessen. Sie vergessen nicht nur Dich, sie vergessen so vieles: Wenn bis Samstag Vormittag niemand im Haus die Zeitung vom Donnerstag vom Treppenabsatz mitgenommen hatte, gingen wir davon aus, dass sie uns gehört.  Aneignung nach Zeitablauf. Von Ewigkeit zu Ewigkeit ist es immer gleich lange still. Deshalb muss sie auch mal ablaufen, die Zeit. Die Zeiger allerdings drehen sich immer weiter, unaufhörlich im Kreis.

I should not be alone. Der Weg zum Nebenmenschen scheint für mich sehr lang. Und unaufhörlich anstrengend.

Dann solltest Du Deinen Kreis noch mehr einschränken. Überhaupt solltest Du immer wieder nachprüfen, ob Du Dich außerhalb Deines Kreises versteckt hältst. Fast alle, die hier arbeiten, sind am Einknicken, haben den Rand ihrer Möglichkeiten bereits erreicht. Keiner Deiner Arbeitgeber liest Deine Gedanken. Das Geschehene kann nie rückgängig gemacht, sondern nur getrübt werden. Sobald diese chaotische, undurchsichtige Phase vorbei ist, teile mir bitte Deine neue Adresse mit.

Nikolai Iwanowitsch, wie schön, dass Du geboren bist.

Unendlich sehr vermiss ich Dich, im Herzen fest behalt ich Dich.

Du hast mich ins Licht geführt, für Deine Farben dank ich Dir.

Da hast Du also gestanden, an einer Mauer gelehnt, eine Zigarre in der Hosentasche. An diesem Tag hast Du mir einen Bogen geformt, der beinahe ein Kreis ist. Das war ein großes Glück. Anmaßung von Wirklichkeit: Im Nachhinein würde ich sogar behaupten dieser Moment war besonders wirklich. Der Kreis, der keiner ist, hat eine winzige Öffnung, ganz unscheinbar. Dort gelangt die Unruhe hinein, die stetig nach einem Ausgleich sucht. Die Technik des Lebens ist  eigenartig. Durch Auferlegung einer allzu großen oder vielmehr aller Verantwortung erdrückst Du Dich.

Musik: Felix Foerster

Mina Reischer: Der Kuckuck wird nass

Ich hab geträumt, das war so ein altes Haus. Es sah irgendwie aus wie ein Museum. Und da gab es dann eine geheime Nebentür und ein riesiges Bett. 

Und da hab ich dann übernachtet. Seltsam. 

Und als ich eingeschlafen bin, hab ich gemerkt, dass dieses Zimmer auch irgendwie in meiner Arbeit ist und alle an meinem Bett standen und mir erzählt haben, dass es eine Schmetterlingsplage gab und ich komplett in Schmetterlingen eingeschmettert war, aber…

Wenn Kälte in mir hochsteigt und es Nacht wird.

You, you pass. You pass my right-hand side alright.

You would worry not. You would worry not, if a car hit the tender spot.

You would walk a line. You would spin my spine.

You would collapse into the Rhine.

You’re absolutely right. You’re on the side. 

You went light, all of mine.

Ich bin überzeugt, Europa.

Be critical out.

Ich glaube Europa.

The alarms won’t stop.

Ich bin überzeugt, Europa.

She told me I’m alright, that in another we’ll arrive.

Ich habe Dir geglaubt, Europa.

This house is empty. Are we leaving?

I’m haunted by the idea of spending a good life.

Mein einziger Kritikpunkt ist, dass das Schicksal es ständig zu gut mit mir meinte. 

Die Zeit vergeht. Könnte es sein, dass Du das nie geglaubt hast? Die Gegenwart wird immer vernachlässigt, um der Zukunft willen. Du hast mich gelehrt misstrauisch zu sein gegen die Leute, die von Zukunft sprechen. Und nun, nun sprichst Du es selbst aus. Und mit einer Stimme, mit einem Ernst, der mir fremd ist. Es klingt als ob ein anderer es sagt, so bekannt klingt es und doch, indem Du es sagst, für mich so fremd. Andere sprechen aus Dir, das macht mir Angst,

Ich bin überzeugt, Europa. – Was Du alles werden willst.

Ich glaube, Europa. – Da zahlst Du Strafe, wenn Du zu viel gewollt hast.

Ich bin überzeugt, Europa. – Ich sehe sie ganz viel. Ich sehe etwas, was Du nicht siehst.

Ich habe Dir geglaubt, Europa. – Und das ist etwas ganz Neues.

Der Himmel war schon lang nicht mehr so himmelblau.

Ich liebe die Nacht. Ich liebe die Nacht. Ich liebe die Nacht, ich liebe die Nacht. Ich liebe die Nacht. Ich liebe, wenn es dunkel wird.

Mein Recht auf Nacht ist mein Recht auf Schatten. Ich liebe die Nacht.

I’m haunted by the idea of spending a good life.

Ich habe Dir geglaubt, Europa.

Willst Du nicht mehr sprechen? Bist Du nun müde? Schließe Deine Augen. Atme einmal tief ein und einmal tief aus. Sieh mich an und sage mir: Bist Du müde? Und dann sieh mich nicht mehr an und beschreibe mich.

Das musst Du jetzt genießen.

Ich habe Dir geglaubt, Europa.

Setz Dich hin.

Du musst das jetzt genießen.

Wir sitzen und warten, dass es Mitternacht wird.

Enjoy your worries. You may never have them again. You may never have them again.

Ich habe Dir geglaubt, Europa.

Enjoy your worries. You may never have them again.

Ich habe Dir geglaubt, Europa.

So enjoy your worries. You may never have them again.

Das Geschrei von unten ist unerträglich. Ich will Dich gar nicht finden. Ich will Dich gar nicht finden. 

Took me longer than I needed. Let’s never get back to that. I climbed hills to see you. Let’s not go back to that. My friend, this month ain’t fucking easy.

Der Himmel war schon lang nicht mehr so himmelblau.

Nichts im Kosmos ist so einsam wie die einander umkreisenden Ichs. Und doch komme ich mir mit mir allein nun übrig vor.

So ist es wie es scheint.
So ist es wie es scheint
So ist es wie es scheint.

Die Distanz vergrößern wir durch unser Benehmen.

Ich habe Dir geglaubt.

Şafak Sarıçiçek: Wodnew

Die Kartographen haben uns verschlafen.

Prolog

„Sie sollen Ihren Namen nennen.“
„Anton Wodnew.“
„Wo wurden sie geboren und in welchem Jahr?“, übersetzt die Dolmetscherin.
„St. Nichts-Burg, 1. Oktober 1994.“
„Sprechen Sie mir nach. Hiermit schwöre ich die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen.“
Ich spreche es nach, laut und deutlich.
„Setzen Sie sich.“

Der Richter aus dem Tao-Land blickt mich ernst an. Ich blicke unbeeindruckt zurück.

Sie wollen jetzt selbstverständlich wissen, wie ich, gebürtiger Wodnew aus Groß-Nordland, vor einem Tao-Land-Gericht gelandet bin.

Dazu müssen wir nach St. Nichts-Burg zurück. Und zwar viele Wochen. Wochen, die ich in ihrem Verlauf so nicht erwartet hätte. Nicht in meinen absonderlichsten Träumen. Das ist ganz ernst gemeint: Gestern etwa träumte ich von einem Groß-Nordland-Agenten, der eine Matrjoschka war und auseinandergezogen wurde und dessen kleinere Imitate beständig Reigen tanzten, mit Trunkenheitsflaschen in der Hand. Nein, was mir die vergangenen Wochen zustieß, ließ meine Träume alt aussehen.

TEIL I

St. Nichts- Burg

Wie schon gesagt, bin ich im immerzu frierenden Osten Groß-Nordlands, in St. Nichts-Burg geboren. Irgendwann muss die staatliche Kartographiebehörde unsere Stadt vergessen haben. Ich stelle mir vor, wie der für unseren Bezirk zuständige Beamte, kurz vor der Verzeichnung meiner Heimatstadt, einen Krampf in der Wade bekommt, der ihn schon ewig plagt und jetzt sein Fass zum Überlaufen bringt. Der gehässige Beamte beschließt, die nächste zu registrierende Stadt zu vergessen.
So muss es gewesen sein. Meine Kindheit, wie auch meine Jugendjahre verliefen zum größten Teil in diesem blinden Fleck der Weltkarte. In der Umgebung gab es einfach nichts, was für einen jungen Mann wie mich von Interesse gewesen wäre. An der Stadtgrenze sollte stehen: „Willkommen in St. Nichts-Burg. Eine famose Lebenszeit im Nichtstun erwartet Sie. Ihre  Bürgermeisterin. P.S: Wie haben Sie nur hergefunden? Die Kartographen haben uns verschlafen.“

Meine Mutter starb, als ich noch sehr klein war. Darum kann ich mich nicht an sie erinnern. Wie Sie sehen, ist es so eine Sache mit der Erinnerung in St. Nichts-Burg.

Ich weine meiner Mutter nicht nach. Es erfüllt mich nur mit einer ständigen Wut.
Früh habe ich verstanden, was die Welt für ein hungriger Ort ist, essen oder gefressen werden, auch wenn Sie das als gebildetes Publikum vielleicht belächeln.

Es ist mir äußerst zuwider, belächelt zu werden.

Dem Lachen entkomme ich zumeist, indem ich mitlache. Nur manchmal gelingt es mir nicht und Entsetzen erfasst mich, weil man mein wahres Abbild sehen könnte.

Sehen Sie, ich habe manchmal kuriose Gedanken. 

Und ich habe mich in meinem Inneren schon immer für ein Krokodil gehalten.

Denken Sie jetzt nicht, ich habe den Verstand verloren. Nein, biegen Sie ihre Mundwinkel nicht zu diesem höhnischen Lachen. Ich will mich kurz erklären.

Für mich ist das Krokodil ein Jäger, der zum Gejagten wurde. Ein wahrer Herrscher, den man in Käfige steckte, als Delikatesse verzehrte, zu einer Kinderattraktion verkommen ließ. 

Ein König in Fesseln. Ein Prädator, den man fälschlicherweise nach St. Nichts-Burg verschiffte, weil ein Beamter mit einem fiesen Krampf in der Wade zwischenzeitlich wohl in das Ministerium für Zooangelegenheiten gewechselt war und an seiner persönlichen Vendetta gegen St. Nichts-Burg weiter Gefallen fand.

Aber ich schweife ab. Wenden Sie sich nicht fort!

Ich bin mir dessen bewusst, nur eine einfache Putzkraft zu sein. Jawohl, ich stehe dazu, die Kloaken und kotverschmierten Toiletten, den von Essensresten fettigen Boden einer Fast-Food-Kette St. Nichts-Burgs vertraglich gebunden reinigen zu müssen.

Aber ich bin gebildeter Abschaum. Wissen Sie, in der Vergemeinschaftungszeit Groß-Nordlands bildete man das Proletariat aus und es gab Volksschulen. Ich schweife ab. Jedenfalls hatte mein Vater zuhause Bücher vorrätig. Jack London insbesondere. Aber auch den einen oder anderen Tolstoi und Dostojewskij. Die las mein Vater früher.
Der Sergej Wodnew, Held der Groß-Nordländischen Arbeit. Jetzt Alkoholiker.
Jawohl, er ist Alkoholiker. Ein elender Trinker.
Ich sag es offen und schreie es ihm auch gerne ins Gesicht. Elendiger ALKOHOLIKER! Zum Kotzen bist du! Zum Kotzen ist diese beschissene Bude! Ich hasse dich. Verdammt.
Es tut mir leid, ich bin zu ablenkbar, zu fahrig.

Eben ist die Staatsanwältin aufgestanden und ich muss sagen, sie ist verdammt attraktiv. Die Toilettenreinigung. Genau. Bei einer Fastfoodkette die es nur in St. Nichts-Burg gibt. Mit drei Filialen. Allesamt weiß, wie der die Stadt unter sich begrabende Schnee. Mit großen rosafarbenen Smileyinstallationen auf dem Dach, die unaufhörlich  zwinkern. Und die Reinigung obliegt mir.
Dort nahm es seinen Lauf.

An einem Montag war ich auf dem Weg zu einer Filiale. Der rosa Smiley drehte sich und grinste mir zu. Ich betrat das Gebäude. Ich machte einige Schritte in Richtung Putzkammer. Diese befand sich in der Toilette.

Ein blutverschmierter Mann lag in der Ecke der Filiale am Boden.
Sein Anzug war khakifarben. Die Krawatte mit Flecken, die ungewollt erschienen. Die Kassiererin, wie auch der einzige weitere Bedienstete des Geschäfts waren nicht zu sehen. Als wäre alles abgesprochen. Es waren keine anderen Leute im Geschäft. Angesichts der fortgeschrittenen Zeit nicht verwunderlich. Die Tür zur Küche schwang dann auf und heraus trat eine mit einer Skimaske vermummte Gestalt. Nicht besonders groß, aber außergewöhnlich breit. An der Skimaske hing noch das Verkaufsetikett. Er hielt ein Jagdgewehr in der Hand und richtete es auf mich.

„Ich putze hier nur.“ sagte ich unbeholfen, noch nicht ganz begreifend, was hier passiert war.

„Dann fange in der Toilette an“ antwortete mir mein Gegenüber. Seine Stimme klang nach Stimmbandproblemen. Sie raspelte. Er war in einen schweren Pelz eingewickelt und der Saum streifte den verdreckten Boden.

„Bleib dort. Schließe die Tür und halte deine Klappe. Vielleicht erschieße ich dich dann nicht.“ Ich nickte und bewegte mich langsam zur Toilette. 

„Schneller du Scheißhaufen!“

Ich stürzte durch die Toilettentür und schwer atmend verriegelte ich sie mit meinem Angestelltenschlüssel. Es war still. Ich verharrte auf dem Boden und versuchte langsamer zu atmen. Einen kühlen Kopf zu bewahren. Eisige Nachtluft drang aus einem gekippten Fenster. Ich saß auf dem Boden. Aus irgendeinem Grund dachte ich an den Smiley der über mir und über dem Dach in die Dunkelheit von St. Nichts-Burg zwinkerte.
Inzwischen atmete ich wieder regelmäßig und wischte den kalten Schweiß auf meiner Stirn weg. Eine Tür fiel zu. Das Geräusch drang nur schwer und von fern in meinen Kopf.
Dann sah ich die Schraube. Sie lag unter dem Putzschrank.  Ich stand auf und mit dem Aufstehen entwich die Nachtluft aus meinem Kopf. Ein Blick zu dem Lüftungsschacht erhärtete den Verdacht. Mit einem Schraubenzieher aus dem Putzschrank löste ich den metallenen Schutz. Ein lederner Koffer kam zum Vorschein.
Erst traute ich meinen Augen nicht recht, doch meine Instinkte nahmen schnell überhand. Keineswegs war ich zu überrascht gestapelte Groß-Nordland-Rubelbündel vorzufinden.
Meine lebhafte Phantasie hatte diese Möglichkeit selbstverständlich als erste erdacht.

Ich überschlug die Geldbündel grob und kam zu dem Schluss etwa 4 bis 6 Millionen Groß-Nordland-Rubel in der Tasche vor mir zu haben.
Die Tasche steckte ich sofort in den Putzschrank. Schob Waschmittel und Utensilien davor, bis sie verdeckt war. Innerlich dankte ich dem Mann, mich in die Toilette eingesperrt zu haben.
In dem Moment war er für mich ein Botschafter der höheren Vorhersehung. Schicksal, wenn man so will. Die Rettungsleine aus der nicht existenten Stadt.

Was ich mir dabei gedacht habe, als ich die Tasche einsperrte, um sie später mit zu nehmen?
Gar nichts besonderes. Es war die natürlichste Handlung, die es für mich geben konnte. Kein Unterschied dazu, seine Notdurft zu verrichten.

Der Pelzmann hatte die Tasche im Lüftungsschacht nicht gefunden, sonst hätte er mich nicht in die Toilette beordert. Der wahrscheinliche Inhaber war tot, mit einer Kugel in seinem Kopf. Die Polizei würde frühestens am nächsten Morgen oder vielleicht auch niemals da sein. Die Autowege waren verschneit, die Filiale etwas außerhalb von der Stadt und es eilte nicht. 
Ich war arm. Mein Leben bisher ziemlich sinnlos und die Tasche bedeutet ungeahnte Träume, die wahr werden könnten. Einfache Mathematik.

Bei meinem Weg aus dem Fast-Food Laden heraus fiel mein Blick auf die Leiche in der  Blutlache. Das Gesicht des Toten war merkwürdig verzerrt und wirkte ein wenig zufrieden. Der Urheber dieses Ausdrucks war nirgends zu sehen. Leise stahl ich mich davon. Schloss vorher die Tür ab und zog die Rolläden herunter.

Ich habe Recht. Als ich spätabends zurückkomme, ist die Szene unverändert.

Das Blut, in dem der Typ liegt, ist zäher geworden. Die Tasche befindet sich noch immer im Putzschrank. Erleichtert atme ich auf.

Den Abend bis zum Sonnenaufgang verbringe ich am Bahnhof. Niemand ist da. Es fahren zwar Züge in die Stadt und auch welche raus, aber vollkommen ohne Plan. Sie werden von Privaten betrieben, nach dem Prinzip des organisierten Chaos. Wer Kohle hat, kommt raus. Rein kommt man nur aus Versehen oder weil man in St. Nichts-Burg geboren wird.

Ich nutze die Zeit zum Überlegen. Was ich bestimmt weiß ist, dass ich hier weg muss. Nicht nur, dass ich Verdächtiger einer Straftat bin. Ich habe auch selber mit meinem Leben in Groß- Nordland abgeschlossen.
Etwas, ein messerscharfer Gedanke durchtrennt alles was mich hier noch festhalten könnte. ICH MUSS WEG.
Aber wohin? Ich blicke um mich und hoffe auf eine Eingebung von irgendwo her. 
Lasse meine Blicke über die Geschäftsschilder schweifen. WÄSCHE steht da auf Groß-Nordländisch, RESTAURANT in neonfarbenen Buchstaben, dann wandere ich noch einmal mit meinen Augen umher. Und an zwei Wörtern bleibe ich hängen. Völlig aus dem Zusammenhang gerissen. FREE und SHOP.

FREE SHOP denke ich, Free Shop. Wieso Free Shop. Das scheint keinen Sinn zu ergeben. Und wieder fühle ich mich ferngesteuert, eine höhere Macht bedient sich meines neuronalen Schaltwerkes, meiner Synapsen, der Transmitter in meinem Gehirn. 
Die Puzzleteile fallen zusammen: FREE SHOP. Eine Kindheitserinnerung.
Ich war neun und in einer Kneipe. Mein Vater. Er trinkt. Mit seinen Freunden.

Tosendes Gelächter, debiles Stammtischlachen.
Er erzählt einen Witz. Sein Gesicht ist puterrot und Schweiß rinnt seine Stirn herunter.

„Und damals im Grenzland!“ schreit er. „Damals war noch alles gut. Zur Zeit des Groß-Gemeinschaftlichen Paktes.“ Die gesichtslosen Masken der eingeschworenen Trinkrunde nicken einhellig zustimmend. „Damals“, fährt er fort, „gab es die Free Shops. Wisst ihr noch? Da gab es den guten Kram. Das Zeugs, das man wirklich brauchte, aha haha!“.

„Verdammt, ja !“ schreit ihm einer von der gesichtslosen, in den Schatten liegenden, Menschen zu und schlägt auf den Tisch.
Er heißt Kolja, fällt mir in diesem Wachtraum plötzlich dazu ein.

„Haushaltsgegenstände, gute Zigaretten, Schnaps vom feinsten, Whiskey… Jawohl, die Free Shops“.
Mein Vater hebt drohend die Hand.
„Still! Aber…“, erhebt er seine donnernde Stimme, „wir konnten da ja gar nicht hin. Das haben ja die Politbüros so geregelt.“ Einhelliges Nicken.
„Nein. Dazu brauchten wir andere. Andere vom Groß-Gemeinschaftlichen Pakt. Die durften das.“

Eine Kunstpause. ,,Dazu nutzen wir die Tao-Länder! Hohoho, jawohl. Die Exoten waren dazu gut zu gebrauchen. Nicht? Hohoho. Von denen hatten wir ja reichlich Arbeitskräfte.“
Alle stimmen in sein Gelächter ein. ,,Genau, hohoho, die ham das für uns gemacht.“ Das Gelächter verebbt langsam.

Mein Vater wird leiser, die biergetränkte Mannhaftigkeit schwankt: „Aber die ließen sich nicht an der Nase rumführen nicht? Nee. Die waren geschäftstüchtig. Machten aus der Sache ein Geschäft die Schlitzohren. Und wir waren dann die Dummen.“

Er schweigt. Plötzlich brechen alle in ein wohlwollendes Gelächter aus. Er stimmt ein: ,,Hohoho“.

Die Erinnerung stürzt wie ein kaputtes Gebäude zusammen.

Zwei Scheinwerfer scheinen in die Gegenwart, ein Zugzielanzeiger verkündet:

TAO–LAND

Ich steige ein.

Andii Weber: Es braucht nur ein paar Rosen, um einen ganzen Staat zu zersetzen

Napoleon Bonaparte im Spiegelgespräch

Napoleon Bonaparte, Kultmegaloman in kleiner Uniform, sitzt in einer Hollywoodschaukel auf seiner Terasse. Seit seiner Niederlage bei Waterloo hat man ihn nicht mehr so entschleunigt gesehen. Er scheint in Gedanken versunken, in seinem Gesicht zuckt kein Muskel. Nur wenn er einen Schluck aus der halben Kokusnuss mit Strohalm nimmt, die ihn sein Familienminister vor dem Gespräch bereitgestellt hat, verzieht sich seine Miene: Es scheint nicht zu schmecken. Die Stille von St.Helena, einer kleinen Insel im Pazifik, scheint Napoleon geradezu zur Ruhe zu verdammen. Doch innerlich lodert seine Flamme weiter, wie er uns im Interview verrät. Ein Gespräch über Abgeschiedenheit, Gartenarbeit, die Fragilität von Macht und über Punk.

SPIEGEL: Herr Bonaparte, dies sind schwierige Zeiten, Ich habe schon viele Interviews geführt, aber dies ist das erste, bei dem ich eineinhalb Meter abstand halten muss.

Napoleon: Ja, schwierige Zeiten in der Tat, schwierige Zeiten. (blickt verträumt auf die Vulkanspitzen)

SPIEGEL: Aber ich möchte mich trotzdem ganz herzlich bedanken, dass sie sich die Zeit für uns genommen haben.

Napoleon: (lacht scharf und ironisch auf) Ja, bitteschön. Ich habe momentan eigentlich recht viel Zeit …

SPIEGEL: Danke

Napoleon: Ja, bitte.

SPIEGEL: Dankeschön, wirklich. das ist sehr … lieb.

Napoleon: Ja, zum Henker, bitteschön!

SPIEGEL: Danke! Sie sind ja schon einige Jahre hier in der Verbannung auf St. Helena. Was können wir als freie Europäer denn von Ihnen als unfreien Ex-Europäer lernen?

Napoleon: Wenn sie mich so fragen: Nichts.

SPIEGEL: Aber sie müssten doch der absolute Grand Expert in sachen Isolation sein. Wie halten sie es aus so ganz ab vom Weltgeschehen?

Napoleon: Sie sagen das mit so einem Unterton, das gefällt mir gar nicht!

SPIEGEL: Was meinen Sie?

Napoleon: Na das mit dem Grand Expert in Sachen Isolation. Sie wissen schon, das ich immernoch der Grand Impereur bin oder?

SPIEGEL: Ach so?

Napoleon: Natürlich! Zugegeben, mein Reich hat sich etwas verkleinert. Ich herrsche hier mit allem Pipapo und sogar Hofstaat über meinen Garten.

SPIEGEL: Ihren Garten?

Napoleon. Das hat mein Arzt empfohlen: Herr Empereur, hat er gesagt, gehen sie doch mal in den Garten und schneiden sie Rosen und Hibiskusblüten ab; Das hilft gegen die Langeweile und die Gicht. Ja, und das habe ich dann gemacht. Zuerst war das auch ganz fabelhaft: Ich habe diese stacheligen Blumen ganz herrlich gezähmt und mir unterworfen. Doch dieses Drecksgestrüpp ist einfach immer nachgewachsen! Sie müssen wissen, mein Garten ist sehr groß …

SPIEGEL: Lassen Sie mich da mal kritisch einhaken: Wie groß genau?

Napoleon: So groß (Napoleon zieht seine Hand aus seiner Hose und macht eine ausladende Bewegung).

SPIEGEL: Hat es eigentlich einen Grund, dass sie die Hand nicht mehr im Revers tragen, sondern in der Hose?

Napoleon: Hä?

SPIEGEL: Fahren sie fort!

Napoleon: Also die Rosenscheiße wuchs immer wieder nach und so befahl ich meinem Koch, dass er jeden Tag genau einen Daumen dick abschneiden solle von allen Rosen.

SPIEGEL: Ein solider Plan, wie mir scheint …

Napoleon: RUHE! Damit fing der Mist ja gerade erst an! Mein Koch war den ganzen Tag am Rosenschnibbeln. Denn wie ich bereits erwähnte, ist mein garten sooo … egal. Seine eigentlichen Schnibbelpflichten, die in der Küche nämlich, vernachlässigte er also sträflich. Was natürlich unverzeihlich ist.

SPIEGEL: Ja, und dann?

Napoleon. Naja dann habe ich meinen Innenminister zum Kochen geschickt, und meinen Arzt zum Koch in den Garten zum Rosenschnibbeln. Dadurch ist aber zum einen eine Vakanz im Innenministerium entstanden die ich umgehend mit dem Minister für Digitales und Infrastruktur auffüllen musste und meinen zweiten General, eine Schnarchnase vor dem Herrn übrigens, habe ich beordert, meine täglichen Arztvisiten abzuhalten.

SPIEGEL: Interessant …

Napoleon: Ich bin noch nicht fertig! Durch diese Rochaden entstand in meinem (macht ein verächtliches Gesicht) “Parlament” ein Machtvakuum und löste eine kleine Regierungskrise aus. Und jetzt habe ich Rosen mit perfekten Blutwerten und einen 5G-Funkturm in meinem Wohnzimmer und muss mir bei jeder Arztvisite anhören, dass es das beste gegen meine Gicht wäre, wenn ich mir beide Beine amputieren ließe.

Sie sehen an diesem Beispiel, wie fragil Macht ist: Es braucht nur ein paar Rosen, um einen ganzen Staat zu zersetzen. Diese Engländer können ihnen davon ein Liedchen singen.

SPIEGEL: Es scheint mir so, als würde ihnen nicht langweilig werden, trotz der Verbannung in die absolute Abgeschiedenheit.

Napoleon: Was reden sie da? Es ist dermaßen fade. Ich möchte etwas singen!

SPIEGEL: Aber …

Napoleon: I’m so bored with St.Helen
I’m so bored with St.Helen
But what can I do?

SPIEGEL: Sind sie ein Punk, Herr Bonaparte?

Napoleon: Was erlauben sie sich?

SPIEGEL: Entschuldigung, dumme Frage.

Napoleon: Ja.

Spiegel. Verzeihung.

Napoleon. Schon gut.

SPIEGEL: Anders gefragt: Rosenschneiden, Regierungsgeschäfte, Arztvisiten. Bleibt da überhaupt noch Zeit, die Stille von St.Helena zu genießen?

Napoleon. Was ist denn das nun wieder für eine Frage? Was meinen sie, warum ich das alles mache? Meinen sie wohl, ich wäre hier zum Spaß? Ich schlage hier meine letzte Schlacht. Die schlacht gegen die Langeweile, die Stille. Also möchte ich durchaus sagen, dass ich erfolgreich bin, trotz der ganzen Amateure um mich herum. Entourage, entourage! ich kann es nicht mehr hören! Wuseln ständig in meinem schönen Garten herum und bringen alles durcheinander.

SPIEGEL: Wie lebt es sich denn so im Hause Bonaparte im Südatlantik?

Napoleon: Naja, ich habe einen sehr großen Hut und ein sehr kleines Bett. daneben versuche ich meine Memoiren zu schreiben. Und von wegen Abgeschiedenheit! Ganz im Gegenteil: Sie wissen ja gar nicht wie viele Touristen Täglich, stündlich versuchen in mein Anwesen zu gelangen, um mich zu begaffen. Das ist die eigentliche Demütigung: Die Romantisiereung meiner Abgeschiedenheit durch dahergelaufene Taugenichtse, die mir beim verschimmeln zuschauen wollen. PACK!

Und so versuche ich mich noch weiter zurückzuziehen: Ich gehe nur noch aus dem Hause, wenn es gar nicht anders geht. Und eigentlich geht es immer anders. Man braucht halt nur einen funktionierenden Hofstaat, dann kann man auch zu hause bleiben.

SPIEGEL: Viele Menschen, die momentan in Isolation leben, würden dem vielleicht entgegenen, dass sie keinen funktionierenden Hofstaat zu Hause haben. Haben sie den Realitätsbezug verloren, Herr Bonaparte?

Napoleon: Nein.

Untot in Gostenhof: (6) Ida im Büro

Ida überragte die füllige Sekretärin, die am Kopierer stand, um eineinhalb Kopflängen. Die Dame kopierte mühsam Seiten aus einem Buch und stellte sich dabei so ungeschickt an, dass die Kopien zur Hälfte komplett schwarz waren. 

»Hübsch sieht das aus«, sagte Ida, »aber brauchen Sie noch lange?« 

»Ich wollte eigentlich erst Mittag machen und danach dann fertig …« 

Ida hatte keine Eile. Sie schlenderte zurück in ihr Büro. Die Sekretärin setzte sich an ihren Tisch und begann ein Butterbrot zu kauen, wobei ihr Brösel aus dem Mundwinkel rieselten. 

Etwa zwei Stunden später machte Ida einen weiteren Anlauf. Diesmal war der Kopierer frei, aber der Papiereinzug war hoffnungslos verstopft, weil der letzte Benutzer der Maschine, anstatt den Papierstau zu beseitigen, hemmungslos immer wieder versucht hatte, eine weitere Kopie anzufertigen. Ida telefonierte mit dem Haustechniker. Sie wählte die Nummer aus dem Gedächtnis, denn die Nummer, die am Gerät angeschrieben stand, war, wie sie aus eigener Erfahrung wusste, falsch. 

»Sie wissen, weshalb ich anrufen?« sagte Ida, als am anderen Ende der Leitung jemand abhob. Damit war das Gespräch dann auch schon wieder vorbei. 

Ida ging in ihr Büro und begann zu warten. Sie kramte aus der Seitentasche ihres schwarzen Kleides eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug. Sie rauchte ungestört, denn sie war noch am selben Tag, als das runde Kästchen montiert worden war, auf den Schreibtisch gestiegen und hatte dem Feuermelder an der Decke eigenhändig die Drähte abgezwickt. 

Ida war lange genug bei der Firma, um aus den Geräuschen, die vom Flur her zu ihr drangen, schließen zu können, dass der Haustechniker kam, einen ellenlangen Fluch ausstieß, als er die Schweinerei im Kopierer erblickte, und dann das Problem innerhalb von zwei Minuten behob. Leider hörte Ida auch, wie sofort, kaum dass sich die Tür hinter dem Haustechniker geschlossen hatte, der Sachbearbeiter, der ein Büro schräg über den Gang bewohnte, zum Kopierer eilte. Sie würde noch ein wenig warten müssen. Ida langweilte sich noch einen Tacken mehr und griff zum Telefon, um ihre Tante Mathilda anzurufen. 

»Hallo, Tante Mathilda«, sagte sie. »Ich kann leider noch nichts Genaueres berichten, mir sind hier ein paar Dinge dazwischen gekommen.« 

»Ach Ida, bin ich froh, dass du anrufst! Dein Onkel Serban ist heute mal wieder kaum zu ertragen! Er will seinen schattenlosen Doppelgänger zu den Leuten ins Vorderhaus schicken, weil die gestern Nacht wieder bis drei Uhr früh gefeiert haben …«, begann Tante Mathilda zu lamentieren. 

»Aber was ist daran verwerflich? Serban will nun mal nachts in Ruhe seine Zeitung lesen, und der schattenlose Doppelgänger hat sich doch bewährt?«, fragte Ida und bemühte sich um Sachlichkeit. 

»Bei den Russen – ja, aber die von gestern sind sicher keine orthodoxen, ich fürchte, es sind sogar Italiener!« rief Mathilda in äußerster Verzweiflung. 

»Beruhige dich, Tantchen!«, sagte Ida knapp. »Ich schaue heute nach der Arbeit bei euch auf einen Sprung vorbei, und wir überlegen in Ruhe, wie wir die Leute im Vorderhaus quälen können, o.k.? Ich muss jetzt weitermachen, sonst läuft mir die Zeit davon – bis später!« 

Ida legte auf, atmete tief durch und machte sich zum dritten Mal an diesem Tag auf zum Kopiergerät. Aber auch sonst hätte sie nichts zu tun gehabt. Der Fotokopierer stand diesmal verlassen da, als ob er sich schon den ganzen Tag genauso wie Ida langweilen würde. Ida klappte den Deckel, der die Mechanik des automatischen Einzugs in sich birgt, nach hinten weg. Auf der Glasplatte für die Vorlagen lag ein Brief, den ihr Kollege von schräg gegenüber offensichtlich vorhin vergessen hatte. Er hatte es wohl eilig gehabt, dachte Ida, denn der Brief war an ihn adressiert und stammte von einem Inkassobüro, das ausstehende Spielschulden anmahnte, die er in einem Spielautomaten-Center gemacht hatte. Ida überflog das Schreiben und lächelte, als sie das Wort »Pfändungsbefehl« las. 

Sie legte den Brief auf das nebenan stehende Faxgerät, damit noch viele weitere Kollegen ihn lesen konnten, griff tief in ihr schwarzes Kleid und zog vorsichtig ihre Hand wieder heraus, die sie um etwas Kleines, Empfindliches geschlossen hatte. Behutsam setzte sie eine zerzauste Fledermaus auf die Glasplatte und breitete mit ihren dünnen, weißen Fingern die Flügel des Tieres aus. Sie klappte den Deckel der Maschine wieder herab, achtete jedoch darauf, dass zwischen diesem und der Glasplatte ausreichend Raum für das kleine Lebewesen blieb. 

Zehn Minuten später saß Ida wieder an ihrem Schreibtisch. Aus dem Aschenbecher stieg ein dünner Rauchfaden fast senkrecht nach oben, doch Ida war so vertieft in die Fotokopien der kleinen Fledermaus, die sie wieder sicher unter ihrem Kleid verstaut hatte, dass sie gerade nicht an ihre Zigarette denken konnte. 

»Da haben wir es ja schon«, murmelte sie. »Den tausend heulenden Höllenhunden sei es gepriesen!« 

Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer ihrer Tante Mathilda. 

»Ich weiß jetzt, was dem kleinen Hermann fehlt«, berichtete Ida. »Er muss einen Zahn gefressen haben, der ihm im Magen liegen geblieben ist. Wie ich es mir erhofft hatte, hat die Lampe des Kopierers deinen kleinen Schatz wunderbar durchleuchtet. Ich konnte das Ding in der Fotokopie ganz deutlich erkennen, es ist ein menschlicher Backenzahn.« 

»Das sind wenigstens einmal gute Nachrichten«, sagte Mathilda am anderen Ende der Leitung, und Ida konnte die Erleichterung in ihrer Stimme hören. »Zwei Tage Diät werden genügen, und schon ist er wieder auf dem Damm. Bei deinem Onkel hat das bisher auch jedes Mal funktioniert, wenn er sich überfressen hat.« 

Ida verließ ihr Büro kurz nach fünf. Draußen war es schon dunkel, aber sie behielt ihre Sonnenbrille, die sie schon den ganzen Tag getragen hatte, auf der Nase. Sie fischte ihren Schlüsselbund aus der Tasche, an dem die Knochen erlegter und erlegener Geschöpfe baumelten. Dann stieg sie in ihr silbernes Auto und startete den Motor. Als sie den Rückwärtsgang einlegte, seilte sich vom Dachhimmel eine kleine schwarze Spinne ab und blieb direkt vor ihrer Nase hängen. 

»Na, Göring? War dir langweilig?«, fragte Ida. »Mir auch, aber jetzt geht’s nach Hause!«

Die Spinne wippte an ihrem Faden, als ob sie nicken wollte, und Ida fuhr los.


Erzähler: Carsten Striepe
Ida: Julia Gruber

Mathilda: Verena Schmidt
Sekretärin: Viktoria Solner

Buch:
Theobald O.J. Fuchs
Regie/Schnitt:
Lukas Münich
Titelmusik:
Andreas V. Weber


Lily Schuster: Traum

Stefan: „Was liegt dir denn auf dem Herzen, was du mir mitten in der Nacht erzählen musst?“

Sie: „Ich gebe in diese hochmoderne Suchmaschine namens „Google“ die Buchstaben -T-r-a-m- Definition ein.

-Enter-… Straßenbahn, hä? Straßenbahn?

Achsooo, vertippt!

-Löschtaste- u- m- Definition-Enter-. Na also.. hammas jetzt?

Erstens: im Schlaf auftretende Abfolge von Vorstellungen, Bildern, Ereignissen, Erlebnissen.

Beispiel: „ein schöner, seltsamer Traum“

Zweite Definition ist unterteilt in zweitens a und zweitens b.

Zweitens a: sehnlicher, unerfüllter Wunsch.

Beispiel: „Der Traum vom Glück“

Zweitens b: etwas traumhaft schönes, Person; Sache, die wie die Erfüllung geheimer Wünsche erscheint.

Beispiel: „Das ist ja ein Traum von einem Haus.“

Sie: „Als ob ich nicht wüsste was ein Traum ist, Stefan . Ich träume jede Nacht und jeden Tag.

Stefan: „Hattest du schonwieder einen deiner Albträume?“

Sie: „Zum Beispiel träume ich in meinem Traum von einem Traum in dem ich träume, Träume wahrwerden zu lassen.“

Stefan: „Ist alles gut bei dir?“

Sie: „Träume wie… mir den roséfarbenen, von kleinen Diamanten, umgebenen Ring zu kaufen, den ich so oft in diesem Schaufenster um die Ecke liegen sehe.

Stefan: „Sag doch einfach, dass du heiraten willst.“

Sie, genervt von allem: „Oder wie… einfach mal mein Hinterteil von der Couch heben, mich Richtung Zimmer bewegen, den Schrank öffnen, die Matte rausholen, auf den Boden legen, Musik am Handy anmachen und einfach Sport treiben, damit ich mich wohl fühle in meiner Haut und gesund sowie fit bleibe.“

Stefan, genervt von ihr: „Gleich so theatralisch.“

Sie, kurz vorm Nervenzusammenbruch: „Oder… es auch mal zu schaffen PÜNKTLICH aus dem Haus zugehen, ohne vorher fünf Wecker gestellt zu haben. Der eine klingelt, wenn ich aufstehen muss. Der zweite, wann ich aus dem Bad raus sein muss, der dritte gibt mir dann an, dass ich jetzt fertig mit Frühstücken sein sollte und auch schon mit dem Hund Gassi gewesen sein sollte. Dann gibt es da desWeiteren den vierten Wecker, welcher so nett ist und mir sagt, wann der richtige Zeitpunkt zum Anziehen ist. Der fünfte ist dann logischerweise jener, der mich zur Tür bittet.“

Stefan: „Du hast ja Probleme!“

Sie, wieder etwas beruhigt und traurig: „Ganz abgesehen von den Träumen nach Zärtlichkeit. Nach Liebe und abends nicht alleine den Film anzuschauen. Der auch mal kocht, den Haushalt macht und gemeinsam mit mir weint und lacht. Also so was wie „Der Traum vom Mann“

Stefan schweigt

Sie: „Ach ja! Selbstverständlich ist die Welt in meinen Träumen glücklich und DAS ÜBERALL auf diesem Planeten. Sie ist bunt und harmonisch, nicht einfarbig und kalt. Sie wird bewohnt und belebt von Wesen, die es schätzen dort zu sein und alles dafür tun, dass es noch lange ein solch wertvolles Etwas gibt. Wo jeder und jede die Chance hat zu träumen und die Träume erfüllen zu können. Zumindest die meisten.

Stefan, indem er sie Finger auf den Tisch klopft: „Mmmh.“

Sie: „Erfolg spielt auch eine große Rolle in meiner Utopie*. Ich will es schaffen selbstständig zu sein, in dem was ich tue um erfolgreich zu sein. Mich ins Zeug legen und anstrengen. Nicht ständig mein Glück vor mich herschieben und darauf warten, dass es mir aus dem Nichts in die Arme fällt. Glück haben mit den richtigen Menschen am richtigen Ort zur richtigen Zeit zu sein. Oder eben den richtigen Zeitpunkt für sich an seinem richtigen Ort erschaffen. In der Realität und nicht im Traum!“

Stefan flüstert fragend vor sich hin: „ Mit den richtigen Menschen am richtigen Zeitpunkt zur richtigen… was?!“

Sie: „In meiner -mehr als nur- Kopfgeburt* gehe ich selbstbewusst durchs Leben, mache mir keine Gedanken darüber, was andere über mich und mein Outfit denken. Ich tanze in der Disco für mich und nicht für die, die sich dort aufhaltenden eventuell in Frage kommenden, zukünftigen Traummänner. Ich esse nur so viel bis ich keinen Hunger mehr habe und nicht noch sieben Portionen mehr, weil es halt wieder so lecker schmeckt. Ich bin konzentriert auf mein Wohl und vergesse dabei nicht das Wohlbefinden meiner Freunde und das, der Familie. Mit denen ich übrigens nie Streit habe und wenn, ich mich sehr schnell wieder versöhne. Denen es allen gut geht und auch niemals schlecht.Die auf keinen Fall krank werden im Alter und unter Schmerzen sterben. Zwischen jenen und mir stetig ein großartiger Kontakt besteht, der für immer bleibt. Wunderschöne Haare an dem Tag meines ersten Dates. Schöne Nägel, stressfreies pünktliches Losgehen OHNE meine klingelnden fünf Schätze. Wohlfühlen in meiner eigenen Haut.“

Stefan, versucht sie ernst zu nehmen: „Und was machst du, damit sich deine Träume erfüllen?“

Sie: „Den Mund mache ich auf und sage „NEIN“. Wenn ich das nicht will. Wenn ich nicht will, dass mirder eventuell in Frage kommende zukünftige Traummann, mit dem ich mein erstes langersehntes Date unter einer leuchtenden Lichterkette im leicht schwenkendem Boot auf dem Meer habe, mir unter den Rock fassen möchte. Nein! Zu mir selbst, wenn ich mal wieder auf der Couch hocke, Frust in mich rein fresse, anstatt meinen verf..„Piiiip“..rsch anzuheben und sportlich zu sein. Nein zu all dem, was mir in der Realität aufgeschwatzt wird und mir nicht gut tut.“, sagt sie voller Elan und zugleich aufbrausend. [immer energischer werdend:] Und JA. Ja, den Mut zu haben, mir den Ring aus dem Schaufenster um die Ecke zu kaufen. Mir zuzutrauen, dass ich rechtzeitig aus dem Haus komme. Ja zu mir, wenn ich vor dem Spiegel stehe und mir in die Augen schau. Ja zu denen, die mein Nein nicht kapiert haben: JA, du hast recht, ich habe gerade NEIN gesagt. Und „DOCH“ zu allen, die behaupten, dass Träume nicht wahrwerden können. Denn das sind verträumte, die ihren Träumen nicht einmal die Chance geben, geträumt zu werden.“

Stefan schaut sie verwirrt an und fragt: „Aber was ist, wenn sich alle meine Träume erfüllt haben?“

Sie: „Dann TRÄUM WEITER!“

Stefan ängstlich: „Wann, hast du nochmal gesagt, ist dein Psychologe vom Urlaub wieder zurück?“

Untot in Gostenhof: (5) Kindervergrämer

»Du musst auch einmal raus aus deinem Kellerverlies«, sagte Tante Mathilda nachdrücklich. Großonkel Vladimir, dem dieser Ratschlag galt, knurrte einen vergeblichen Protest.

»Ich sehe keine Veranlassung dazu, irgendwohin zu gehen …«, schimpfte er.

Doch Mathilda schob ihn mit sanfter Gewalt auf den Beifahrersitz von Idas silbernen Auto, während Ida sich ans Steuer setzte. Im hellen Licht des Tages tanzten Milliarden Staubkörnchen um Vladimirs kahlen Schädel. Sein Gesicht hatte eine wachsgelbe Farbe und sein Anzug war über und über bedeckt mit Spinnweben und Staubflusen. 

»Wenn Mathilda sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist Widerstand zwecklos, Vladimir, das solltest du am besten wissen«, sagte Ida und zündete sich eine Zigarette an. »Wir machen jetzt zusammen eine kleine Einkaufstour für Onkel Serban, trinken noch ein Bierchen in einem Café und schon sind wir wieder zu Hause.« 

»Kauf nicht zu viele von diesen Dingern, mein Schatz«, sagte Mathilda flehentlich. »Du weißt, dass dein Onkel Serban dazu neigt, maßlos zu übertreiben, insbesondere, wenn er die ganze Nacht durch Schnaps getrunken hat.« 

»Verlass dich auf mich, Tante!« Ida startete den Motor und fuhr los. 

»Wie … krchkchkch«, begann Vladimir, doch seine Worte blieben in einem heiseren Husten stecken, das klang, als kratzten eiserne Sohlen über Kopfsteinpflaster. »Wie kommt der kleine Serban darauf«, fuhr er mühsam fort, als er wieder ein wenig mehr Luft bekam, »sich einen Vorrat dieser idiotischen … Kchkchkchrrch …« 

»Du scheinst wirklich ein bisschen frische Luft brauchen zu können«, sagte Ida, »Der Schimmel im Keller ist auf Dauer nicht gesund …« 

»Unsinn!« maulte Vladimir und kurbelte das Fenster herunter. »Dieser Serban – wie kommt er nur immer auf diese Schnapsideen?« 

Ida seufzte, warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel und riss das Steuer hart nach links, so dass das Auto mit quietschenden Reifen um eine Ecke schlitterte. Hinter ihnen blökte ein Rudel wütender Hupen. 

»Serban hat doch diese Spekulationsmaschine erfunden«, erklärte Ida. »Der Koffer aus rotem Leder im Gästezimmer, mit den schwarzen Beschlägen, fast so groß wie ein Schrank und drei mal so schwer.« 

»Stimmt – den habe ich schon mal gesehen. Habe mir überlegt, wer wohl da drin wohnt.« 

»Niemand wohnt da drin. Es ist ein komplizierter Mechanismus. Auf der einen Seite befindet sich eine Klappe, wenn man einen Gegenstand über Nacht hinein stellt und am anderen Morgen wieder heraus holt, kann man erkennen, ob der Gegenstand in nächster Zukunft an Wert gewinnt oder verliert: Ist der Gegenstand größer – wird er teurer, und umgekehrt. Die Maschine ist Serbans Meisterwerk!« 

»Dieser Narr«, meckerte Vladimir, während Ida den Wagen parkte und sich eine weitere Zigarette ansteckte. 

»Ich bin sofort wieder da, o.k.? Verhalte dich unauffällig!« sagte sie und tätschelte liebevoll Vladimirs mageres Knie.

Eine Staubwolke stieg auf. Ida schnappte sich ihre Handtasche und entfernte sich entschlossenen Schritts in Richtung der nächsten Querstraße. Als sie eine knappe Viertelstunde später aus einem Ramsch- und Allerlei-Geschäft trat, trug sie einen großen braunen Pappkarton, in dem sich schwarze Vögel türmten – Plastik-Raben, die als Taubenvergrämer dienten. Ida hatte alle Vogel-Imitate, die im Laden vorrätig gewesen waren, aufgekauft, da Serbans Maschine in der nächsten Balkon-Saison ein großes Geschäft prognostizierte. Als sie um die Ecke bog, sah sie schon von Weitem eine Gruppe Jugendlicher neben ihrem Auto stehen. Sie schienen sich um das Beifahrerfenster zu drängen. 

Plötzlich begannen die jungen Leute zu schreien, das schrille Kreischen der beiden Mädchen hob sich deutlich von dem übrigen Gebrüll ab. Unmittelbar danach begannen die Jugendlichen zu rennen. Als ob der Leibhaftige persönlich hinter ihnen her wäre, hetzten sie den Bürgersteig herunter in Idas Richtung. 

»Nichts wie weg!« brüllte der Junge, der an der Spitze rannte. Fast wäre er mit Ida und der überquellenden Kiste zusammengestoßen.

Er bemerkte sie im letzten Moment und prallte mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen zurück. Der Anblick der bleichen Frau mit der großen dunklen Brille im Gesicht, die einen Berg schwarzen Vögel vor sich her schleppte, gab der Schar den Rest – in heillosem Schrecken stoben die Jugendlichen auseinander und waren im Handumdrehen in irgendwelchen Nebengassen verschwunden. 

»Was ist passiert?« fragte Ida, als sie beim Wagen angekommen war, Vladimir, der seelenruhig auf seinem Platz saß. Die Scheibe der Beifahrertür war herunter gekurbelt und Vladimir steckte seinen Ellenbogen ganz lässig aus dem Fenster. 

»Nichts.« 

»Irgendetwas muss passiert sein! Diese Kinder sind davon gerannt, als gälte es ihr Leben!« 

»Ich bin wohl eingeschlafen. Die Hitze ist heute auch drückend wie der Bleideckel auf einem Sarg. Auf einmal hörte ich Stimmen neben meinem Ohr, aber ich dachte, sie gehörten in meinen Traum. ›Hey, guck mal, da sitzt ein Toter‹, sagte jemand. – ›Quatsch, da schläft einer!‹ sagte eine zweite Stimme. ›Schau dir das mal an! Der Anzug total verstaubt, das Gesicht ist ganz gelb und die Augen stehen halb offen – das ist eine Schaufensterpuppe.‹« 

»Hast du wieder mit offenen Augen geschlafen?« sagte Ida in einem vorwurfsvollen Tonfall. 

»Kann sein«, erwiderte Vladimir unwirsch, »aber das geht wohl niemanden etwas an!« 

»Was geschah dann?« 

»Zwei oder drei sagten: ›Total cool! Eine Schaufensterpuppe im Auto!‹ und ein anderer meinte: ›Wisst ihr was? Der drücke ich eine Dose Bier in die Hand!‹« Vladimir verstummte und machte keine Anstalten, in seiner Erzählung fortzufahren. 

»Das war alles?« fragte Ida schließlich. 

»Ja. Dann bin ich aufgewacht und hab mir die Typen mal genauer angesehen.« 

Ida schnalzte mit der Zunge. »Das kann ich mir lebhaft vorstellen … aber sei’s drum. Unser Auftrag ist erledigt, wir können heim fahren.« 

Sie wuchtete die Kiste mit den Plastik-Raben auf den Rücksitz und nahm hinter dem Steuer Platz. »Es ist in der Tat verdammt heiß heute«, stöhnte sie. 

»Willst du einen Schluck Bier?« fragte Vladimir und streckte ihr seine dürre wachsgelbe Hand entgegen, in der er eine Dose hielt. »Ist sogar noch kalt.«


Erzähler: Carsten Striepe
Ida: Julia Gruber
Großonkel Vladimir: Arthur Roscher

Regie/Schnitt:
Lukas Münich
Titelmusik:
Andreas V. Weber