Bereits auf halbem Wege von Lorenzkirche zum Hauptmarkt wehte der Wind ihm den Duft von gebrannten Mandeln, Gewürztees und Glühwein in die Nasenflügel. In Berlin mochte er die Menschenmassen in den Straßen nicht, aber hier ließ er sich einfach mittreiben. Er wusste, dass die Menge ihn zum Ziel schaukeln würde, wie ein Boot, das dem Schein des Leuchtturms folgte. Als er seine durchfrorenen Finger am Glühwein wärmte und die Schals und Mützen der anderen seine Haut streiften, fühlte er sogar eine Art Nestwärme, die er von früher kannte. Obwohl die Nürnberger Elisenlebkuchen inzwischen doppelt so teuer geworden waren, kramte er mit seinen klammen Fingern in den Ritzen seiner Jacke nach Münzen. Dann hatte er den dampfenden Glühwein, den süßen Lebkuchen verschlungen und mit ihm den Glanz der Erinnerungen. Die Menschen kamen ihm plötzlich spießig, angepasst und konsumsüchtig vor. Was für ein Zirkus! Er hatte das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Also kämpfte er sich aus der wogenden Menge, ließ die Buden mit blinkenden Kerzen, vertrockneten Pflaumenmännchen und im Fett brutzelnden Bratwürstchen hinter sich. Es zog ihn zur Meisengeige, seiner ehemaligen Stammkneipe mit der charmanten Kellnerin Monique, zum vertrauten Ächzen des Milchschäumers und zu einem herben Merlot. Er lächelte. Wie lange war er nicht mehr da gewesen! Er öffnete die Tür und musste sich erst durch den neuen Windschutz aus Plastik kämpfen. Fast alles beim Alten. Lichterketten mit hellen Kugeln hingen wie ein Rahmen um die großen Fenster. Auf den runden Bistrotischen standen kleine Vasen mit Kiefern und Eichkätzchenzweigen. An den Wänden hingen schwarz weiße Fotos von den Menschen, die aktuell dort arbeiteten oder sich dort regelmäßig tummelten. Zwei tanzten, eine Gruppe lachte in die Kamera. Er suchte nach bekannten Gesichtern, doch es schien, als hätte die Belegschaft sich komplett ausgetauscht. Früher hatte er hier jeden gekannt. Vor fünfzehn Jahren saß er hier, in der ehemaligen Bäckerei, jeden Abend an der länglichen Theke vor dem schwarzen Regal mit Whisykey und Weinflaschen, hatte sich mit Thekenphilosphen über die Welt unterhalten, war ab und zu in das kleine Arthouse Kino gegangen. Er hatte sogar noch die Zeiten erlebt, als man rauchen durfte, während schwarz weiße Nouvelle Vague Filme über die Leinwand flimmerten. Außerdem hatte er hier geschrieben. Es war magisch gewesen. Sobald er an der Theke saß, den herben Merlot auf seiner Zunge schmeckte, das vertraute Kreischen des Milchschäumers vernahm, küsste ihn die Muse. In Berlin hatte er immer wieder nach solchen Orten gesucht, doch nie einen gefunden, in dem er das gleiche Gefühl der Inspiration, Geschichte und Geborgenheit verspürte. Er setzte sich auf einen der schwarzen Barhocker, bestellte einen Merlot und musterte die jungen Mädchen, die jetzt bedienten, miteinander redeten und sich You Tube Videos ansahen. Er fragte, ob sie eine Monique kannten, doch sie verneinten. „Früher war ich oft hier!“, fuhr er fort, doch verstummte bald, als er bemerkte, dass die Mädchen sich nicht mit ihm unterhalten wollten. Er musterte sich im Spiegel gegenüber, sah seine grün getönte Brille, unter der seine Augen müde hervorblickten, seine grauen Schläfen, den beigen Hut, der traurig herabhing. Dann blickte er sich um. Hinter ihm saß ein alter Mann mit Rollator, der in sein Bier starrte, daneben eine junge Frau, die in ihre Zeitschriften vertieft war. Alles war vertraut, aber doch anders, neu. Hier würde ihn die Muse bestimmt nicht mehr küssen. Er seufzte in seinen Merlot. Ein tiefer, trauriger Seufzer. Vor einigen Tagen hatte er in das Buch „Die Ortlosigkeit“ des Menschen von Ivan Goll reingelesen und sich verstanden gefühlt. Kein Wunder. Er zahlte, stand auf und schlug das Plastik des Windschutzes auf. Hier stand er einige Momente, absorbiert von den Stimmen im Inneren und noch nicht in der Außenwelt. Es herrschte eine seltsame Stille in diesem Zwischenraum, den es früher nicht gab, der neu war. Er sah durch das matte Plastik des Vorhangs nach innen, musterte den Mann mit dem Rollator, die vertiefte Frau, die kichernden Mädels. Verzerrt und klein sah er sein Gesicht im Spiegel an der Bar. Niemand schien ihn zu beachten. Als er die Eingangstür öffnete, strich ihm Wind um die Wangen. Ungebändigt, als hätte er nur darauf gewartet, dass ihn jemand herein ließ. Seltsam, dachte er, ich kann mit dem Wind ganz alleine sein. Nur er und der Wind im Windschutz. Linde Sommernächte fielen ihm ein und eine geigende Meise. Ein kurzer Moment. Er fing an zu summen und zu lächeln. Ein Musenkuss im Dazwischen. Der Wind hatte ihm eben ein Gedicht ins Ohr geflüstert.