Am Faschingssamstag findet im Pik-As der traditionelle Strohwitwerstammtisch statt. Die Damen nehmen sich ein verlängertes Wochenende auf dem Kölner Karneval, denn mit dem fränkischen Fasching können auch sie nichts anfangen; ihre Männer bleiben im Lande und deklarieren ihren Kneipenabend zur Anti-Faschings-Party, obwohl das gleiche Programm abläuft wie an den übrigen Samstagen: Trinken, Schafkopfen und die Zeit vergehen lassen.
So war es jedenfalls jahrelang, bis Walter, der Wirt, an Neujahr das Ziel ins Auge faßte, den Stammtisch der Faschingsboykotteure ein wenig aufzumöbeln. „Ich hab mir da was überlegt“, sagte er also Anfang Januar zur versammelten Runde. „Nämlich: Wir müssen an Fasching ein bißchen mehr Stimmung in die Bude bringen.“
„Stimmung?“ ächzte Weizen-Willi, der vor kurzem sein 25-jähriges Stammtischjubiläum feierte, „Stimmung!“ wiederholte er mit Verachtung, er sei ja gerade deswegen an Fasching im Pik-As, weil man hier seine Ruhe habe vor der sogenannten Stimmung, und so solle es auch bleiben.
Die Runde pflichtete ihm lautstark bei.
Aber Walter ließ nicht locker. Natürlich rede er nicht von der üblichen Faschingsstimmung, und – heiliges Versprechen! – er habe weißgott nicht vor, seine Gäste mit Fernsehübertragungen vom Karneval am Rhein zu martern. Seiner Ansicht nach müsse der Stammtisch vielmehr vom passiven Faschingswiderstand zum aktiven Faschingsboykott übergehen. Und er habe da schon einen Plan.
Das Wort „aktiv“ weckte Mißtrauen in der Runde.
„Auch noch aktiv werden!“ stöhnte Bauch-Peter. „Also, eigentlich komm ich ja her, weil man hier so schön entspannen kann.“
„Laß mal Walter seinen Plan erzählen“, warf der Kapitän ein. „Vielleicht wird‘s ja nicht ganz so schlimm.“
„Ich hör mir das nur an, wenn‘s eine Runde auf‘s Haus gibt!“ rief der Doktor.
Walter brachte eine Runde Hörnerwhisky alias Jägermeister auf Kosten des Hauses. Dann brachte er seinen Vorschlag zu Gehör. Und als er geendet hatte, hätte der Stammtisch am liebsten schon am nächsten Tag den aktiven Faschingsboykott à la Pik-As gefeiert.
Genau vier Wochen später versammelte sich nach und nach eine farbenfrohe Runde im Pik-As, und jeder Neuankömmling wurde mit großem Hallo begrüßt. Sie hatten sich auch wirklich Mühe gegeben, jeder einzelne von ihnen, und Walter stellte mit Genugtuung fest, daß er mit seiner Idee so etwas wie Kampfgeist in die Truppe gebracht hatte. Jeder mußte Keller- und Dachbodenabteile durchwühlt haben, um das auserlesene Stück zutage zu fördern, das er am Leibe trug; mancher hatte vielleicht sogar einen Trödelladen heimgesucht. Da saß der Kapitän in einem grellen Pop-Art-Hemd aus den Siebzigern. Da saß Weizen-Willi im verblichenen Hawaiihemd. Der Doktor kam herein in einem Hemd mit Prilblumen-Dekor. Den Vogel schoß allerdings Bauch-Peter ab, der sich bauchfrei in eine Rüschentrachtenbluse seiner Frau gezwängt hatte.
„Blusen gelten nicht!“ rief Weizen-Willi. „Der Wettbewerb hieß: ‚Wer trägt das scheußlichste Hemd‘ – nicht: ‚wer trägt die scheußlichste Bluse‘!“
„Du hast ja bloß Angst vor Konkurrenz!“ konterte Bauch-Peter. „Die Bluse gilt!“
Weizen-Willi gab nach – „aber nur unter einer Bedingung: Du gibst eine Runde aus!“
Bauch-Peter war friedfertig und läutete mit einer Runde Sechsämter den Stammtisch der Faschingsboykotteure ein.
Als zu vorgerückter Stunde ein äußerst korrekt gekleideter Fremder die Gaststube betrat, war die Stimmung auf dem Siedepunkt. Die Teilnehmer des von Walter ins Leben gerufenen „Scheußliche Hemden“-Wettbewerbs spielten gerade Modeschau. Zu den Klängen von „Fiesta Mexicana“ und unter den anfeuernden Rufen der Stammtischbrüder tänzelte der bauchfreie Bauch-Peter hüftwackelnd am Tresen entlang. Der Fremde blieb mit offenem Mund an der Tür stehen, als sei er inmitten der Zivilisation auf Ureinwohner gestoßen, die ein schockierendes Ritual zelebrieren.
Walter drehte das Radio leiser. Die Runde verstummte und starrte den Mann im dunkelgrauen Zweireiher und blütenweißen Hemd an.
„Entschuldigen Sie“, sagte der Fremde. „Kann mir einer der Herren sagen, wie ich zum Intercity-Hotel in der Eilgutstraße komme?“
„Zum Intercity-Hotel?“ wiederholte Walter und wollte eben zu einer Wegbeschreibung anheben, da stürzte sich Bauch-Peter auf den Fremden, umarmte ihn und rief: „Glückwunsch! Sie haben gewonnen!“
„Gewonnen?“ fragte der Mann und echote verständnislos die Runde.
„Mit dem läppischen weißen Hemd?“ fragte Weizen-Willi.
Bauch-Peter legte seine Pranke auf die Schulter des Fremden und schob ihn zum Tisch.
„Genau. Ich erkläre unseren Gast zum Gewinner des ‚Scheußliche-Hemden‘-Wettbewerbs 2008. Denn woran denken wir, wenn wir so ein Hemd sehen?“
„An Arbeit?“ schlug der Doktor vor.
„Vielleicht sogar an Chefs“, überlegte der Kapitän.
„Erraten!“ rief Bauch-Peter. „Und kennt einer von euch etwas Scheußlicheres als Chefs und Arbeit?“
„Nein!“ grölte die Runde begeistert.
„Walter, ein Herrengedeck für den glücklichen Gewinner!“
Der Fremde wand sich, er habe keine Zeit und trinke niemals Alkohol, aber das ließen die Anti-Faschings-Aktivisten nicht gelten, zumal der rheinländische Akzent des Mannes unverkennbar war. Mit vereinten Kräften drückten Weizen-Willi und der Kapitän den Gast auf einen Stuhl, und die Runde prostete ihm überschwenglich zu.
„Auf den fränkischen Fasching, tschulligung, Anti-Fasching!“ schmetterte der Kapitän, und Bauch-Peter rief: „Aloha-he!“
Als die Stammtischbrüder vom Pik-As gegen drei Uhr morgens aus dem Lokal taumelten, schwelgten sie schon in Vorfreude auf den Anti-Fasching 2021, „und den von 2020“, bemerkte Walter zum Abschied, „wird unser Gast aus dem Rheinland so schnell nicht vergessen.“
Schöner Text, schön vorgetragen.
Aber Hallo, was für ein Text, Elmar Tannert! Das hat richtig Spaß gemacht zu lesen.