Ida saß auf dem Sattel ihres schwarzen Damenrades und stützte sich mit einem Fuß an der wuchtigen Türschwelle des Gründerzeit-Wohnhauses ab. Es war Herbst, der Himmel hing graugelb wie Haferschleim über der Stadt, ein eisiger Wind blies durch die Straße und schleuderte eine Handvoll Regentropfen nach der anderen waagrecht gegen Passanten und Fensterscheiben. Auf dem Gepäckständer des Fahrrades war eine Banane festgeklemmt. Ida machte keine Anstalten, abzusteigen oder loszufahren. Stattdessen rauchte sie eine lange, dünne Zigarette in einer silbernen Zigarettenspitze. Ein kleiner Junge mit einem bunten Schulranzen auf dem Rücken bog um die Ecke und hüpfte auf die Türschwelle.
»Hey, Alfons!« begrüßte Ida den Buben, der mit seiner Mutter und seiner Schwester im zweiten Stock wohnte.
»Hey, Ida! Was machst du denn mit der Banane auf dem Fahrrad?« fragte der Junge.
»Spezialdienstleistung: Lebensmittel ausliefern. Neuer Job. Ich halte gerade die Ruhezeit ein.«
Sie blies einen Rauchring in die Luft. »Magst du schon mal hoch? Onkel Serban ist zu Hause. Er spielt bestimmt was mit dir, bis deine Mama nach Hause kommt.«
In diesem Moment ertönte ein gedämpfter Klingelton. Ida begann, ihren rechten Arm zu schütteln. Rasch tauchte ein schwarzer Gegenstand im Bündchen ihrer schwarzen Lederjacke auf, und es dauerte nicht lange, da baumelte ein klobiger Telefonhörer an einem Spiralkabel aus dem Ärmel.
»Lieferdienst Hotz & Partner … ja? … o.k., ich komme sofort!«
»Muss du schon fort?« fragte Alfons.
»Ich bin gleich bei euch! Ich muss nur schnell in die Südstadt, da braucht jemand in der Humboldtstraße dringend ein frisches Ei.«
Ida streckte erneut ihren Arm aus und wackelte kurz mit dem Ellenbogen, woraufhin ein schneeweißes Hühnerei aus dem Ärmel in ihre Hand rutschte.
»Ui!« sagte Alfons und machte große Augen. »Wie machst du das?«
»Übung, reine Übung!« grinste Ida und entblößte ein Paar nadelspitzer langer und schneeweißer Eckzähne.
Sie klemmte das Ei vorsichtig neben die Banane unter den Metallbügel des altmodischen Gepäckträgers. Dann drückte sie die große schwarze Sonnenbrille fest auf ihre Nase und radelte los, während Alfons im Haus verschwand.
Keine fünf Minuten später tauchte Ida wieder im Wohnzimmer ihrer Tante Mathilda und ihres Onkels Serban auf. Serban und die Nachbarkinder saßen auf dem Sofa und starrten angestrengt nach oben zur Decke. Alle drei hatten eine messingfarbene Pfeife im Mund stecken, in die sie mit aller Kraft hineinbliesen, aber kein Ton war zu hören. Oben, dicht unter der Stuckverzierung kreisten mit einem Affentempo drei Fledermäuse, die um die Wette flogen.
»Na, ihr beiden! Spielt ihr wieder Fledermaus-Olympiade?«
Onkel Serban spuckte die Ultraschall-Pfeife aus und schnappte geräuschvoll nach Luft. Sein großer runder Kopf glühte rot, wodurch seine weiße, in alle Richtungen abstehende Mähne besonders gut zur Geltung kam.
»Genau! Diese kleinen Räuber hier haben mich zuvor schon beim Kirschkern-Spucken, bei ›Knochenmühle‹, Grabstein-Memory und beim ›Zombie, ärgere dich nicht!‹ besiegt!«
»Und zwar zu Null!« jubelte Alfons‘ Schwester Emilie.
In diesem Moment klingelte erneut das Telefon. Ida holte den Hörer aus dem Ärmel und nahm das Gespräch an: »Zwei Scheiben Salami? Scharf? Pferd – kein Problem! Ich bin in zwei Minuten bei Ihnen.«
Sie sprang auf die Beine und schlang ein weites Tuch mit aufgedruckten Totenköpfen um ihren Kopf.
»Lass mal Kind, ich mach das«, bestimmte Onkel Serban. »Leg du mal die Beine hoch!«
»Aber Onkelchen! Ich bin noch gar nicht erschöpft! Den Lieferdienst habe ich doch erst heute morgen erfunden – «
»Nichts da!« widersprach Serban energisch. »Ich bin quasi schon unterwegs!«
Er griff sich mit links und rechts hinter beide Ohren und zog jeweils eine Scheibe Salami hervor. Dann rief er »Tschü-üüs!« und machte einen Salto aus dem Fenster.
»Na gut«, sagte Ida, »dann zock eben ich mit euch weiter. Der liebe Serban hofft doch nur darauf, dass ihm der Kunde einen Schnaps ausgibt. Was haltet ihr von einer Runde Phantom-Poker mit den Spinnen auf dem Dachboden?«
Erzähler: Carsten Striepe
Ida: Julia Gruber
Onkel Serban: Moses Wolff
Alfons: Benedikt
Emilie: Emma
Regie/Schnitt:
Lukas Münich
Titelmusik:
Andreas V. Weber